Wow, Bayern! Also jetzt Grüne Volkspartei?

Die heutigen Volksparteien folgen der Logik, dass sie schauen, wo die Mehrheiten sind, und sich dahinter versammeln. Unsere Aufgabe ist die genau entgegengesetzte.

Diese Wahl ist eine Zäsur. Nicht nur, weil man noch vor wenigen Monaten gesagt hätte „18 Prozent in Bayern, WTF?“ und heute dieses Ergebnis nicht für selbstverständlich, aber doch für eines hält, das eben im Bereich des Möglichen lag. Ihren historischen Charakter erhält die Wahl auch nicht aus der Schlappe der CSU. Diese ist bemerkenswert und verdient, aber auch nur ein Symptom einer tiefer greifenden Veränderung. Worum es mir geht, ist eine tiefgreifende Veränderung des Parteiensystems, die auch Auswirkungen auf unsere Demokratie haben wird.

Das System hat sich verschoben – was heißt das für uns Grüne?

Der Abgesang auf das bekannte Rechts-Links-Schema ist nicht besonders neu. Er richtete sich allerdings, wenn er in der Vergangenheit diskutiert wurde, zumeist auf eine Entpolitisierung. Noch vor wenigen Jahren ging es um asymmetrische Demobilisierung, davon ist heute keine Rede mehr.

Die #unteilbar Demo, der Protest am Hambacher Wald nur eine Woche zuvor, die seebrücke Aktionen – all das zeigt, dass wir in einer wahnsinnig politischen Zeit leben.

Die Bayernwahl, aber letztlich alle Ereignisse in diesem langen politischen Sommer 2018 zeigen: die Trennlinie unseres politischen Systems verläuft nicht mehr entlang der ökonomischen Ausrichtung. Einfach formuliert läuft sie zwischen guter und schlechter Laune. Zwischen Angst machen und Angst haben. Zwischen Vertrauen und Misstrauen. Die Stellung der Grünen ist die einer Partei, die Hoffnung vermittelt und optimistisch in die Zukunft blickt.
Jahrelang war der Zukunftsoptimismus – verbunden mit einer Aufstiegserzählung – fester zumindest rhetorischer Bestandteil in der Geschichte der FDP. Das hat Lindner aufgelöst. Der Mensch im Menschenbild der Lindner-FDP interessiert sich nicht mehr dafür, dass es seinen Kindern einmal besser gehen soll. Ihm ist wichtig, dass es im hier und jetzt möglichst vielen Leuten – am besten dem ausländisch aussehenden Menschen in der Bäckerschlange – schlechter geht als ihm selbst. Ein Menschenbild, das auch bei Union und AfD alle Aufstiegserzählungen überlagert. Hier liegt inzwischen also ein erhebliches politisches Potenzial – das wir Grüne auch eher für uns begeistern können als die Sozialdemokratie in all ihrem Strukturkonservatismus.
Dazu tritt die Eroberung des Konservativen. „Wer unsere Heimat liebt, spaltet sie nicht“ war der Erfolgsslogan Alexander van der Bellens bei der Präsidentenwahl in Österreich. Unsere Freundinnen und Freunde in Bayern hatten eine ähnliche Aufstellung, die es früheren CSU-Wähler*innen erleichterte, diesmal ein Kreuz bei den Grünen zu machen. Sind die Grünen im neuen System konservativ? Ich glaube nicht. Ich glaube, nicht wir haben uns verändert, sondern die Konservativen. Konservativ hat in meiner Lesart auch immer etwas mit Anstand zu tun. Mit tiefer Verbundenheit zu Europa. Mit Nächstenliebe. Wie soll denn bitteschön ein Konservativer heute noch Seehofer, Dobrindt und Söder wählen?

Also Grüne Volkspartei?

Jetzt kritisieren gleich wieder einige: „ bloß nicht Volkspartei werden!“. Das ist aber nicht die Frage, um die es geht. Niemand kann bestreiten: Volksparteien sind out. Die Idee der Volkspartei bedeutet, für eine möglichst große Zahl von Menschen anschlussfähig zu sein. Dabei geht in aller Regel die politische Substanz über kurz oder lang flöten. Man sieht es bei der Union, dass sie letztlich nur noch ein Kanzlerinnenwahlverein ist, man sieht es bei der SPD, die in ihrer tiefen Verunsicherung nicht einmal mehr das hinbekommt. Beide glauben aus ihrer Geschichte heraus, es so vielen recht machen zu müssen, dass es am Ende niemandem recht machen können.
Die heutigen Volksparteien folgen der Logik, dass sie schauen, wo die Mehrheiten sind, und sich dahinter versammeln. Unsere Aufgabe ist die genau entgegengesetzte. Unsere Aufgabe besteht darin, einen klaren politischen Kurs vorzugeben, der von gesellschaftlicher Liberalität, einen sozialem Aufbruch, ökologische Modernisierung und der Überzeugung, dass diese Modernisierung mit technologischen Fortschritt gestaltet werden kann, geprägt ist. Und hinter diesem Kurs die Mehrheit der Gesellschaft nicht nur in ihren politischen Ansichten, sondern auch in Stimmen bei der Wahl zu versammeln. Nicht nur arithmetische, sondern eine ideelle Meinungsführerschaft für die Gesamtgesellschaft zu übernehmen.

Kurz gesagt: Ich will nicht, dass wir Grüne Volkspartei werden. Ich will, dass wir die Maß-der-Dinge-Partei werden.

Und das bedeutet auch, die Lücke, die die sieche SPD hinterlässt, selbstbewusst zu füllen. Wir haben die Chance, Führende Kraft der linken Mitte zu werden. Nutzen wir sie. Ohne Überheblichkeit, aber auch ohne zu viel Bescheidenheit. Es macht Sinn, auch wenn er fliegt auf dem Teppich zu bleiben. Wichtiger als über die Landung zu reden ist aber, den Teppich mit guten Ideen lange in der Luft zu halten und klar zu machen, dass wir uns diesen Flug mit harter Arbeit verdient haben.

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